Osterbotschaft des Ökumenischen Patriarchen
Protokoll-Nr. 257
† Bartholomaios,
durch Gottes Erbarmen Erzbischof von Konstantinopel, dem Neuen Rom,
und Ökumenischer Patriarch
allem Volk der Kirche Gnade, Friede und Erbarmen
von Christus, dem in Herrlichkeit auferstandenen Erlöser
Verehrte Brüder und geliebte Kinder im Herrn!
Nachdem wir in Fasten und Gebet die Rennbahn der heiligen Großen Fastenzeit durchlaufen haben und zum heilbringenden Leiden Christi, unseres Gottes, gelangt sind, nehmen wir heute teil an der Freude über Seine lichtstrahlende Auferstehung.
Die Erfahrung der Auferstehung gehört zum Kern der orthodoxen Identität. Denn wir feiern die Auferstehung des Herrn nicht nur am Osterfest und in der darauffolgenden österlichen Zeit, sondern an jedem Sonntag und in jeder Göttlichen Liturgie, die ja stets eine ganz von Licht erfüllte Feier ist. Das christliche Leben ist in allen seinen Facetten, in unserer Anbetung, in unserer Lebensweise und in unserem Zeugnis in der Welt vom Hauch der Auferstehung durchdrungen und ist vom Sieg des auferstandenen Christus über den Tod und der Erwartung Seiner ewigen Herrschaft erfüllt.
Der Mensch vermag von sich aus nichts gegen den Schrecken und die Unabwendbarkeit des Todes, dem er für die Dauer seines ganzen Lebens und nicht nur an dessen Ende ausgesetzt ist. Die Empfindung, dass das Leben „zum Tode führt“, ohne Hoffnung auf ein Entrinnen, macht seinen Lebenswandel nicht menschlicher und führt nicht zu einer verstärkten Verantwortung seiner Sorge für die Gegenwart und die Zukunft. Eher zieht sich der Mensch auf sich selbst zurück, schließt sich von den wesentlichen Dingen des Lebens aus und endet im Zynismus, im Nihilismus und in der Verzweiflung, in der Illusion der uneingeschränkten Selbstverwirklichung und in einem gnadenlosen Streben nach Glück, das durch den Satz beschrieben werden kann: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot.“ Die Wissenschaft, das gesellschaftliche und politische Handeln, der wirtschaftliche Fortschritt und der Wohlstand können keinen Ausweg bieten. Was immer der Mensch hervorbringt, trägt das Stigma des Todes. Es kann nicht retten, weil es auch selbst der Rettung bedarf. Die Sehnsucht nach der Ewigkeit kann nicht durch irdische Güter gestillt, nicht durch die Verlängerung unseres Lebens oder mit Versprechungen trügerischer Paradiese befriedigt werden.
Die orthodoxe Kirche bietet dem heutigen, von der innerweltlichen Rationalität beherrschten Menschen die Wahrheit des erlösenden Evangeliums der Auferstehung. Für uns orthodoxe Christen ist Ostern nicht einfach nur die Erinnerung an die Auferstehung des Herrn, sondern die Realisierung unserer eigenen Wiedergeburt in Christus, dem Auferstandenen, Vorgeschmack und Gewissheit der eschatologischen Erfüllung des göttlichen Heilshandelns. Der Gläubige weiß, dass die Fülle des Lebens ein Geschenk, eine Gabe der Gnade Gottes ist. In Christus wird unser Leben gewandelt und zu einem Weg zur Theosis, der Vergöttlichung also. Die Christen unterscheiden sich – nach einem Wort des hl. Apostels Paulus – von den „übrigen“, die „keine Hoffnung haben“ (vgl. 1 Thess 4,13). Sie hoffen auf Christus, der „unser Leben und unsere Auferstehung“, „der Erste und der Letzte und der Lebendige“ (Offb 1,17-18) ist.
Die rettende Gegenwart Christi in unserem Leben und die Hoffnung auf das Reich Gottes sind im christlichen Leben untrennbar miteinander verbunden, das als schöpferische und verwandelnde Kraft in der Welt wirkt und verwirklicht wird. Es ist überhaupt nicht zufällig, dass die Gläubigen, noch bevor die moderne Zivilisation den Menschen als Schöpfer der Geschichte entworfen und eingesetzt hat, berufen wurden, „Gottes Mitarbeiter“ (vgl. 1 Kor 3,9) zu sein. Es ist eine totale Verkennung des orthodoxen Selbstbewusstseins und des sozialen und caritativen Wirkens der Kirche, wenn behauptet wird, die Orthodoxie sei introvertiert, weltverloren und gleichgültig gegenüber Geschichte und Kultur.
Hochwürdige Brüder und geliebte Kinder,
Ostern ist nicht nur das größte Fest, die größte Feier der Orthodoxen. Die Auferstehung ist der ganze Glaube, das gesamte kirchliche Leben, die umfassende Kultur der Orthodoxie, die unerschöpfliche Quelle, aus der die eschatologische Kraft des orthodoxen Lebens und Zeugnisses schöpft und genährt wird. In der Auferstehung und ausgehend von der Auferstehung erkennen wir Gläubige unsere ewige Bestimmung, entdecken wir den Inhalt und die Richtung unserer Sendung in der Welt, finden wir die Bedeutung und die Wahrheit unserer Freiheit. Der, der in die tiefste Tiefe der Erde hinabgestiegen ist und die Tore des Hades und die Macht des Todes zermalmt hat, geht als Befreier des Menschen und der ganzen Schöpfung aus dem Grab hervor. Dieses Geschenk der Freiheit frei zu empfangen, sich der „Gemeinschaft der Vergöttlichung“, der Kirche, deren Fundament, deren Weg und deren Bestimmung die Freiheit ist, einzufügen, ist jeder Mensch berufen. Diese uns von Christus gewährte Freiheit wird erfahren und gelebt als eine „Bezeugung der Wahrheit in Liebe“ (vgl. Eph 4,15), als ein Ereignis der Gemeinschaft und der Solidarität. „Denn ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder und Schwestern. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe“ (Gal 5,13). In der Kirche „leben wir nach Art der Auferstehung“, im Hinblick auf die „gemeinsame Auferstehung“ am abendlosen Tag des Reiches Gottes.
Mit diesen Überlegungen preisen wir reinen Herzens den auferstandenen Herrn, „der uns allen das Leben aufgehen lässt, den Gott „mit uns“ und „für uns“, der uns verheißen hat, bis zum Ende der Zeiten mit uns zu sein, und rufen den österlichen Freudengruß „Christus ist auferstanden!“. Wir bitten den Geber aller Gaben, den Schöpfer und Erlöser der Welt, er möge unser aller Leben mit dem Licht Seiner allen das Heil bringenden Auferstehung durchdringen und allen die vollkommene Freude und alle heilsamen Gaben schenken, auf dass Sein allheiliger und überhimmlischer Name besungen und gepriesen werde.
Phanar, Ostern 2019
† Bartholomaios von Konstantinopel
Euer aller inständiger Fürbitter bei Christus, dem Auferstandenen